Die Briefsammlung des Pseudo-Marinus von Eboli

Digitale Präsentation der Handschrift Arles 60, versehen mit Suchfunktionen auf der Basis des Verzeichnisses von Fritz Schillmann, Die Formularsammlung des Marinus von Eboli (1929).

Stand: Juni 2013

Leitung: Prof. Dr. Matthias Thumser, Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, E-Mail

Informationen zur Briefsammlung

Viel zu wenig beachtet wurde bislang jene umfangreiche Briefsammlung mit weit über 3000 Stücken, die schon seit dem 16. Jahrhundert dem um 1250 amtierenden päpstlichen Vizekanzler Marinus von Eboli zugewiesen wurde. Dieser Ansicht folgte noch wie selbstverständlich Fritz Schillmann und gab einer 1929 erschienenen Monographie deshalb den Titel „Die Formularsammlung des Marinus von Eboli“ (PDF-Download – Exemplar der MGH mit Anmerkungen Carl Erdmanns). Schillmann war der erste, der sich an das riesige Werk heranwagte und sämtliche Briefe mit Ausstellungsdatum, Rubrik, Initium und fallweise knappen Bemerkungen verzeichnete. Im Vatikan bearbeitete er vier mittelalterliche Handschriften, die Grundlage seines Verzeichnisses wurden und aus denen heraus er erste Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte anstellte.

Nur ein Jahr nach dem Erscheinen von Schillmanns Buch stellte ein Aufsatz des jungen Carl Erdmann alles auf den Kopf (PDF-Download). Er führte überzeugend den Beweis, dass die Briefsammlung mit Sicherheit nicht auf den Vizekanzler Marinus von Eboli zurückzuführen, sondern in ihren älteren Teilen um einiges später, im Verlauf des letzten Drittels des 13. Jahrhunderts, entstanden sei. Wenn die Wissenschaft bis heute an der Bezeichnung „Pseudo-Marinus von Eboli“ festhält, so geschieht dies ausschließlich in Ermangelung eines besseren Titels. Wirklich fundamental ist eine weitere Erkenntnis Erdmanns, die Schillmann völlig entgangen war. Die Briefsammlung weist nämlich in weiten Teilen das Gliederungsprinzip des 1234 von Papst Gregor IX. promulgierten ‚Liber Extra‘ auf. Die ersten rund 2800 Briefe sind in fünf Bücher gegliedert, die jenen des Dekretalenwerks entsprechen. Die einzelnen Bücher setzen sich wiederum aus Abschnitten zusammen, deren Überschriften mehr oder weniger textgleich mit jenen der Tituli des ‚Liber Extra‘ lauten. Auch zur Überlieferungsgeschichte wusste Erdmann völlig neue Erkenntnisse beizutragen. Er unterschied, anders als Schillmann, zwei Redaktionen der Briefsammlung, eine ältere, die er mit der Sigle M, und eine jüngere, die er mit der Sigle N bezeichnete. Beide seien an der römischen Kurie entstanden, Redaktion M zwischen 1268 und 1271 in der Sedisvakanz nach dem Tod Papst Clemens’ IV., Redaktion N zwischen 1292 und 1294 in jener nach Nikolaus IV. Mit diesem Aufsatz erwies sich Erdmann erstmals als ein versierter Methodiker, der sich augenscheinlich anhand des Marinus mit der komplizierten Materie der Briefsammlungen vertraut gemacht hatte. Handgreiflich wird dies an seinem 1939 der Bibliothek der MGH übergebenen Handexemplar der Monographie Schillmanns, das er kritisch durchgearbeitet und mit zahlreichen Anmerkungen versehen hatte. Einige Jahre später sollte er mit seinen bahnbrechenden Publikationen zur Briefliteratur des Investiturstreits diesen Ansatz fortführen und sich dabei auch als Editor hervortun.

1998 konnten die Erkenntnisse Erdmanns zur Überlieferungsgeschichte des Marinus noch einmal wesentlich durch einen Aufsatz von Martin Bertram erweitert werden (PDF-Download). Er hatte zwei weitere Handschriften der Briefsammlung entdeckt, die er mit Erdmanns Überlieferungsschema in Verbindung brachte. Am bedeutendsten ist hier die Handschrift Arles 60, die als bislang einzige bekannte vollständig die ältere Redaktion M repräsentiert. Da sie auch qualitativ akzeptabel ist, haben künftig alle Überlegungen von dieser Handschrift auszugehen. Damit hat Bertram der Beschäftigung mit der Briefsammlung ein völlig neues Fundament geschaffen.

Die folgenden zehn mittelalterlichen Textzeugen sind heute bekannt:

A Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 3976
B Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 3975
C Biblioteca Apostolica Vaticana, Arch. S. Pietro C 117
D Archivio Segreto Vaticano, Arm. XXXI 72, fol. 58–454
E Archivio Segreto Vaticano, Arm. XXXI 72, fol. 1–57
Ar Arles, Médiathèque, Ms 60
Ch Chartres, Bibliothèque municipale, Ms 312 (331) – 1944 vernichtet
Gn Gniezno, Archiwum Archidiecezjalne – Biblioteka Katedralna, Ms. 31
Pa Paris, Bibliothèque nationale, lat. 4184
To Toulouse, Bibliothèque, Ms 473

In Anlehnung an Erdmann brachte Bertram die Zeugen in ein Schema. Einziger vollständiger Vertreter der älteren Redaktion M ist Ar. Eng verwandt mit Ar ist E, nicht ganz so eng C. Diese beiden sind unvollständig. Als Zeugen der jüngeren Redaktion N sind A, B, D, Gn und Ch bekannt; letzterer ist verloren. Bertram stellte fest, dass die Handschriften To und Pa zusammengehören. Beide sind unvollständig, Toulouse enthält den ersten Teil der Briefsammlung, Paris den zweiten. Schon Erdmann hatte herausgefunden, dass Pa eine Zwischenstufe zwischen M und N darstellt, was Bertram aus der Kenntnis des Ganzen heraus bestätigen konnte. Bemerkenswert ist, dass alle Zeugen mit Ausnahme von C nicht auf die fünf Bücher nach dem Modell des ‚Liber Extra‘ beschränkt sind, sondern nach dem zweiten und fünften Buch Anhänge enthalten, und zwar je nach Redaktion in unterschiedlicher Anordnung.

Redaktion M: C – Ar, E I. II. III. IV. V. 1. 2. 3.
To/Pa I. II. 2. 4. 3. 7./ III. IV. V. 1. 5. 6.
Redaktion N: A, B, D, Gn, Ch I. II. 2. 4. 3. III. IV. V. 1. 5. 6. 8. 7.

Diese Anhänge sind zu unterscheiden:

  1. Tractatus Extravagantium (Schillmann 2782–3063)
  2. Tractatus de revocatoriis in rubrica de appellationibus (Schillmann 1071–1282)
  3. Marinus von Eboli, Tractatus de revocatoriis, Tractatus de confirmatione rerum (Schillmann 1284–1285)
  4. Optime conclusiones super revocatoriis et aliis multis secundum quod cancellaria utitur (Schillmann 1283)
  5. Kanzleiordnung Nikolaus’ III. (Schillmann 3064)
  6. Formelbuch Gerhards von Parma (Schillmann 3366–3425)
  7. Diversi processus facti per diversos Romanos pontifices contra ecclesie rebelles (Schillmann 3426–3451)
  8. Briefe vornehmlich aus der Zeit Nikolaus’ III. (Schillmann 3065–3365)

Editorische Ansätze haben sich bislang vor allem auf die Anhänge gerichtet. Geoffrey Barraclough hat 1933/34 die Kanzleiordnung Nikolaus’ III. (5.) ediert, Peter Herde in den 1960er Jahren die beiden Traktate, die tatsächlich von Marinus von Eboli verfasst wurden (3.), außerdem das Formelbuch des Gerhard von Parma (6.). Hingegen sind die fünf Bücher als Ur- und Grundbestand der Briefsammlung im wesentlichen unediert. Gleiches gilt für große Teile des „Tractatus Extravagantium“, der im Grunde als eine eigene Briefsammlung betrachtet werden kann. Ansonsten sind Einzelstücke greifbar. Schillmann hat in den Regesten von August Potthast ungefähr 470 gedruckte Briefe identifiziert, die meisten wahrscheinlich nach anderen Vorlagen. In den Papstregistern von Honorius III. bis Nikolaus IV. fand er an die 600 Briefe. Der allergrößte Teil des Marinus, überschlägig gerechnet 2000 bis 2500 Stücke, ist der Forschung nicht bekannt.

Wegen der großen Menge erscheint eine kritische Edition der gesamten Briefsammlung in absehbarer Zeit unmöglich. Es bräuchte hierfür ein ganzes Team von Editoren, was angesichts der gegenwärtigen Wissenschaftsorganisation völlig unrealistisch ist. Aus dieser Überlegung heraus wurde der Entschluss gefasst, zwei Handschriften als Digitalisate online zu publizieren, Arles 60 (Ar) als den einzigen vollständigen Repräsentanten der Redaktion M und – geplant – Vat. lat. 3976 (A), die Vorlage für Schillmanns Verzeichnis, als Repräsentanten der Redaktion N. Diverse Suchoptionen beruhen auf einer Datenbank, in die vornehmlich anhand Schillmann die Basisdaten zu sämtlichen Briefen aufgenommen wurden. So versteht sich diese Publikation als Alternative, die angesichts der Unmöglichkeit einer kritischen Edition den Zugang zu der riesigen Briefsammlung eröffnen soll.

Die Anregung zu diesem Online-System gab Martin Bertram. Zu danken ist Arno Mentzel-Reuters und Clemens Radl für die Kooperation bei der technischen Realisierung, Kristina Stöbener, die einst die Datenbank angelegt hat, sowie der Médiathèque d’Arles für die unentgeltliche Genehmigung der Publikation ihrer Handschrift.

Matthias Thumser

Hinweise zur Verwendung der Suchfunktion

Der Zugang zur Handschrift Arles 60 erfolgt über den Link „Digitalisat“ in der nachfolgenden Rubrik. In den Bereichen, wo sich die Foliierung der Handschrift inkonsequent verhält, ist die Zählweise von Bertram, Zwei neue Handschriften, verzeichnet. Die Darstellung einer Seite kann mit dem Plus- und Minus-Button oder dem Mausrad bzw. dem Touchpad gezoomt werden. Der Button ganz rechts führt zur Darstellung als Vollbild, in der an den Texten gearbeitet werden kann. Mit Hilfe der rechten Maustaste kann der aktuelle Bildausschnitt als Bilddatei gespeichert werden. – Die Liste der „Tituli“ bietet die Möglichkeit, einen bestimmten Abschnitt der Handschrift anzusteuern.

Kern des Systems ist eine Datenbank, in die vornehmlich anhand des Verzeichnisses von Schillmann die Basisdaten zu den von ihm berücksichtigten Briefen aufgenommen wurden. Die bewusst einfach gehaltene Suchmaske erlaubt die Abfrage der Datenbank nach der Briefnummer Schillmanns (auch mit der Erweiterung durch einen Buchstaben, z. B. „1490 a“), dem Initium (ein oder mehrere Wörter, ausgehend vom Beginn des Kontextes eines Briefes), der Rubrik, den Regesta pontificum Romanorum von August Potthast (2 Bde., 1874/75) oder den Regesta Imperii V: Späte Staufer (1881/82, 1892/94). Bei „Volltextsuche“ kann nach einem beliebigen Wort in den bereits erfassten Brieftexten gesucht werden. Das „Namenverzeichnis“ ist eine digitale Version von Schillmanns Orts- und Personenregister, von der aus die angegebenen Briefe aufgerufen werden können.

Die Ergebnisseite liefert für einen oder mehrere Briefe die wesentlichen Informationen aus der Datenbank. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit des Zugriffs auf die betreffende Seite der Handschrift Arles 60. Die Blätterfunktion führt durch die Ergebnisseiten in der Brieffolge der Handschrift.

Handschrift Arles 60

Digitalisat

Tituli

Datenbanksuche

Schillmann:
Potthast:
Regesta Imperii V:
Initium: Volltextsuche in den Initien
Rubrik: Volltextsuche in den Rubriken

Namenverzeichnis (Fritz Schillmann)

Volltextsuche

Die Volltextsuche beschränkt sich auf die bereits erfassten Brieftexte

Suchbegriff:

Literatur

Schillmann, Fritz, Zur byzantinischen Politik Alexanders IV., Römische Quartalschrift 22,2 (1908) S. 108–131

Schillmann, Fritz, Die Formularsammlung des Marinus von Eboli, Bd. 1: Entstehung und Inhalt (Bibliothek des Preußischen Historischen Instituts in Rom 16, 1929) (PDF-Reader)

Erdmann, Carl, Zur Entstehung der Formelsammlung des Marinus von Eboli, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 21 (1929/30) S. 176–208 (PDF-Download)

Arbusow, Leonid, IV. Römischer Arbeitsbericht, Latvijas Ūniversitātes raksti, Filoloģijas un filosofijas fakultātes serija 2 (1931–33) S. 279–398, hier S. 294–305

Barraclough, Geoffrey, The Chancery Ordinance of Nicholas III. A Study of the Sources, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 25 (1933/34) S. 192–250 (mit Edition von Schillmann 3064)

Vetulani, Adam, Gnieźnieński rękopis formularza Marina de Ebulo [Eine Gnesener Handschrift der Formelsammlung des Marinus de Ebolo], Prawo kanoniczne 4 (1961) S. 211–222

Herde, Peter, Marinus von Eboli: „Super revocatoriis“ und „De confirmationibus“. Zwei Abhandlungen des Vizekanzlers Innocenz’ IV. über das päpstliche Urkundenwesen, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 42/43 (1963) S. 119–264; wieder in: ders., Gesammelte Abhandlungen und Aufsätze 3: Diplomatik, Kanonistik, Paläographie. Studien zu den historischen Grundwissenschaften (2008) S. 151–296 (mit Edition von Schillmann 3107 und 3108)

Herde, Peter, Ein Formelbuch Gerhards von Parma mit Urkunden des Auditor litterarum contradictarum aus dem Jahre 1277, Archiv für Diplomatik 13 (1967) S. 225–312; wieder in: ders., Gesammelte Abhandlungen und Aufsätze 3: Diplomatik, Kanonistik, Paläographie. Studien zu den historischen Grundwissenschaften (2008) S. 297–387 (mit Edition von Schillmann 3366–3425)

Vetulani, Adam, Le formulaire „Marini de Ebulo“ dans le manuscrit de la Bibliothèque Métropolitaine de Gniezno, Annali della Scuola speciale per archivisti e bibliotecari dell’Università di Roma 11 (1971) S. 132–147

Thumser, Matthias, Zur Überlieferungsgeschichte der Briefe Papst Clemens’ IV. (1265–1268), Deutsches Archiv 51 (1995) S. 115–168, hier S. 143–146

Bertram, Martin, Zwei neue Handschriften der Briefsammlung des Pseudo-Marinus von Eboli, in: Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. Peter Herde zum 65. Geburtstag von Freunden, Schülern und Kollegen dargebracht 1, hg. v. Karl Borchardt u. Enno Bünz (1998) S. 457–475 (PDF-Download)

Wetzstein, Thomas, Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 28, 2004) S. 347–351, 535–542 (mit Edition von Schillmann 2154–2156, 2158, 2968–2969)