Aktuelles , Schätze aus Archiv und Bibliothek | 25. Jan. 2021

Schätze aus 200 Jahren MGH-Geschichte - Folge 16: Sprechende Notizen aus der Vergangenheit

In loser Folge stellen wir Ihnen Stücke aus unserem Archiv und unserer Bibliothek vor. Hier finden Sie Raritäten wie auch Dokumente, die die Entwicklung der Monumenta Germaniae Historica prägten; sowie Schriftstücke, die Einblick in die Jahre der NS-Diktatur geben. Die MGH wünschen viel Spaß auf der Entdeckungsreise!


Vor etwa 500 Jahren schrieb ein Kleriker oder Student der Theologie in eines seiner Bücher ein paar Zitate und Sprichworte und versah sie mit geschickten kleinen Zeichnungen. Dieses beidseitig beschriebene Vorsatz-Papierblatt im Folioformat befindet sich heute im Bestand der MGH-Bibliothek. Über den oder die Verfasser der Notizen und über das Buch, aus dem dieses Blatt stammt, ist nichts bekannt. Dennoch lohnt die genauere Betrachtung der assoziativen Sammlung, erlaubt sie doch einen Blick in die Gedankenwelt eines (jungen?) Mannes am Ausgang des Mittelalters.


Zwei wörtliche Zitate aus der Summa Theologiae des Thomas von Aquin, dem Hauptwerk des großen scholastischen Theologen, lassen vermuten, dass der Verfasser dieser Notizen Theologie studierte. Die segnende Hand Gottes aus den Wolken zeichnete er über den Satz „Aqua calida citius et fortius congelatur secundum philosophum in metheorologicorum etc“ (Warmes Wasser gefriert schneller und stärker laut der Meteorologica des Aristoteles) (1). Neben dem Thomas-Zitat „Prudentia est recta ratio agibilium“ (Die Klugheit ist die Richtschnur dafür, wie gehandelt werden soll“) richtet sich ein Hund mit offenem Maul auf (2). „Minen hunt“ hat der stolze Hundebesitzer daneben geschrieben.


Das gleich zweimal notierte „Salvata causa salvatur effectus“ (Bleibt die Ursache, so bleibt die Wirkung), ein volkstümlicher Merkspruch angewendet auch in der Medizin der Zeit, ist nichts anderes als eine Umformulierung des Kausalitätsprinzips „sublata causa tollitur effectus“ (Durch Entfernung der Ursache fällt die Wirkung weg), dessen Herkunft nicht geklärt ist. Auch Thomas von Aquin bezieht sich in seiner Summa Theologiae auf dieses Prinzip (3).


Nicht ganz so offensichtlich ist der Bezug zu Thomas von Aquin bei einem alttestamentarischen Zitat aus dem Buch der Weisheit im unteren Bereich der Vorderseite, „Nichil virtute utilius“ (Nichts ist nützlicher als die Tugend) (4), dem ein Verweis auf das neunte Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles angefügt wurde: „nono [libro] ethicorum“. Aristoteles war für Thomas von Aquin der Philosoph schlechthin. Die aristotelische Ethik kommentierte der Aquinate in seiner Sententia libri Ethicorum.


Der Spruch „Ubi lor ibi nus sed ubi mor ibi culus“ hingegen ist eine typisch studentische Verballhornung eines Sprichwortes, das bereits bei Notker dem Deutschen in seiner Schrift De Partibus Logicae auftaucht: „Ubi dolor ibi manus, ubi amor ibi oculus, ubi mors ibi timor.“ (Hervorhebung durch die Autorin) Auch Thomas von Aquin verwendet dieses Dictum in seinem Sentenzenkommentar: „Ubi amor ibi oculus“ (5). Das Wort „culus“ (Arsch) im verballhornten Spruch könnte ein Hinweis sein, dass dieser eine sexuelle Konnotation hatte; dazu müssten die Begriffe „lor“, „nus“, „mor“ entsprechende Bedeutungen im gesprochenen Vulgärlatein haben, die nicht mehr eindeutig identifiziert werden können.


Einen Merkspruch aus der Volksmedizin hat sich der Unbekannte ebenfalls notiert: Der Hexameter „Autumpni fructus caveas / ne sit tibi luctus“ (Hüte dich vor den herbstlichen Früchten, damit du nicht leiden musst) ist Teil eines Vierzeilers über jahreszeitliche Speisen („de dapibus“) und wird der Medizinschule von Salerno zugeschrieben (6).


Auch ein Merkspruch zu rechtem Verhalten findet sich auf der Vorderseite. Ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln trägt ein Schriftband, das 500 Jahren später immer noch Gültigkeit besitzt: „Flysse dich an gut geberde vnde sage nicht falsche mere. Alle di do sint lugente dy sint gote vnwert“ (Bemühe dich um gutes Benehmen und behaupte nichts Falsches. Alle, die lügen, sind Gott unwürdig).


Frisuren ähnlich wie Zeichnung auf Rückseite. Lucas Cranach d. Ä., Kunsthistorisches Museum WienAuf der Rückseite verwendete der Verfasser für seine Notizen farbige Tinte. Unter das Gesicht einer Frau mit Haube und rot kolorierten Lippen schrieb er mit grünlicher Tinte: „Eyn guts selygis Jar gluck vnde heyl wunsche mir frowe zcu mynem teyl“ (Ein gutes taugliches Jahr, Glück und Heil wünscht mir die Frau). Darunter ist die Zeile „Eyn mundelin Rot vß sendern not“ (Ein rotes Mündchen weckt Verlangen) mit rötlicher Tinte gesetzt. Damit drückte der Schreiber im Vokabular der Minnedichtung vielleicht eigene erotische Anfechtungen aus (ähnliches Vokabular z.B. in „Schowent uf den anger“ Gottfrieds von Neifen).


Die folgenden Zeilen sind mit königsblauer Tinte von anderer Hand geschrieben. Wie eine Erwiderung auf die darüberstehenden Zeilen und vielleicht um sich selbst an die geistlichen Freuden und die Gefahren weltlicher Vergnügungen zu erinnern, werden Psalmen-Anfänge aufgelistet: „Oculi semper ad dominum“ (Die Augen immer auf den Herren [gerichtet]) (7), „Celi enarrant gloriam“ (8) und „Circumdederunt“ (9). Dazwischen finden sich groß die Majuskelbuchstaben „TSR“ in Auszeichnungsschrift geschrieben. Möglicherweise verewigte der Psalmen-Zitierer hier die Anfangsbuchstaben seines Namens.


Annette Marquard-Mois



(1) Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Ia-IIae q. 35 a. 6 arg. 2

6,1, letzter Satz: „Ergo naturale est et conveniens quod plus tristitia fugiatur, quam delectatio appetatur.“ (Also ist es normal und angemessen, dass man mehr die Traurigkeit meidet als das Vergnügen sucht.)

6,2: „Praeterea, actio contrarii facit ad velocitatem et intensionem motus, aqua enim calida citius et fortius congelatur, ut dicit philosophus, in libro Meteor. Sed fuga tristitiae est ex contrarietate contristantis, appetitus autem delectationis non est ex aliqua contrarietate, sed magis procedit ex convenientia delectantis. Ergo maior est fuga tristitiae quam appetitus delectationis. …“ (Des Weiteren führt die Einwirkung des Gegenteiligen zu Beschleunigung und Intensivierung [eines Vorgangs], so wie warmes Wasser schneller und stärker gefriert, laut Aristoteles, Meteorologica. Die Vermeidung von Traurigkeit entsteht aus dem Gegenteil von traurig Machendem, die Lust auf Vergnügen jedoch entsteht nicht aus irgendeinem Gegenteil, sondern vielmehr erwächst sie aus der Angemessenheit des Vergnüglichen.)


(2) Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Ia-IIae q. 57 a. 4 co.: „Cuius differentiae ratio est, quia ars est recta ratio factibilium; prudentia vero est recta ratio agibilium. “ (Der Grund für diesen Unterschied ist, dass die Kunst die Richtschnur ist für das, was erschaffen werden soll, die Klugheit aber ist die Richtschnur dafür, wie gehandelt werden soll.)


(3) Thomas von Aquin, Summa Theologiae IIa-IIae, q. 20 a. 2 ad 1: „Ad primum ergo dicendum quod effectus tollitur non solum sublata causa prima, sed etiam sublata causa secunda.“ (Der Effekt fällt nicht nur weg, wenn die erste Ursache entfernt, sondern auch, wenn die zweite Ursache entfernt wird.)


(4) Vulgata, Liber Sapientiae 8,7

Et, si iustitiam quis diligit,
labores huius sunt virtutes:
sobrietatem enim et prudentiam docet,
iustitiam et fortitudinem,
quibus utilius nihil est in vita hominibus.

Einheitsübersetzung: Wenn jemand Gerechtigkeit liebt, in ihren Mühen findet er die Tugenden. Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Nützlicheres als diese gibt es nicht im Leben der Menschen.


(5) De Partibus Logicae, in: Notker der Deutsche, Die kleineren Schriften. Hrsg. von James C. King und Petrus W. Tax (1996), Zitat auf S.192.

Thomas von Aquin, Scriptum super Sententiis, lib. 3 d. 35 q. 1 a. 2 qc. 1 co.: „ … quia ubi amor, ibi oculus; et Matth. 6, 21: ubi est thesaurus tuus, ibi est et cor tuum.“

Siehe auch: Thesaurus proverbiorum Medii Aevi 10 (2000), S. 36 Nr. 6


(6) Temporibus veris modicum prandere iuberis;
sed calor aestatis dapibus nocet immoderatis.
autumni fructus caveas; ne sint tibi luctus.
de mensa sume quantum vis tempore brumae. 

Regimen sanitatis Salernitanum. Das medizinische Lehrgedicht der Hohen Schule zu Salerno. Ed. P. Tesdorpf, Th. Tesdorpf-Sickenberger (1915), Vers XVIII.


Rückseite

(7) Vulgata Psalm 24,15 = Einheitsübersetzung Psalm 25,15: Meine Augen schauen stets auf den Herrn; denn er befreit meine Füße aus dem Netz.

(8) Vulgata Psalm 18,1 = Einheitsübersetzung Psalm 19,1: Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Firmament kündet das Werk seiner Hände.

(9) Vulgata Psalm 17,5 = Einheitsübersetzung Psalm 18,5: Mich umfingen die Fesseln des Todes und die Fluten des Verderbens erschreckten mich.


Mehr zu Hs A 7/11 von Arno Mentzel-Reuters im Findbuch des MGH-Archivs.