Aktuelles , Schätze aus Archiv und Bibliothek | 19. Dez. 2022

Schätze aus 200 Jahren MGH-Geschichte – Folge 20: Dank für eine Weihnachtsgans in mageren Zeiten

In loser Folge werden Stücke aus unserem Archiv und unserer Bibliothek vorgestellt: Raritäten und Dokumente mit besonderer Geschichte wie auch Schriftstücke, die Einblicke in die Jahre der NS-Diktatur erlauben.


„Lieber Herr Meyer!
Die prachtvolle Gans, mit der Sie mich zu Weihnachten wieder bedacht haben, hat einigermaßen zwiespältige Gefühle in mir wachgerufen. Einerseits und zuvörderst wurde sie natürlich stürmisch begrüßt, zumal sie so rechtzeitig eintraf, dass sie noch im rechter Ruhe mit Andacht genossen werden konnte. Sie zierte am 22. unseren Abendtisch und da ich mich des – natürlichen norddeutschen! – Pastors erinnerte, der bei ähnlicher Gelegenheit seinen 12 Gästen versicherte, das Schönste an einem solchen Vogel sei das Abnagen des Gerippes beim nächsten Frühstück, hat sie uns in ihren Bratenresten noch weiter begleitet und die entsprechende Funktion erfüllt. Ja, in Gestalt ihres köstlichen Schmalzes, das sie in besonderer Fülle hergab, trägt sie noch jetzt dazu bei, den zehrenden Wirkungen der Winterluft und den regelmäßigen Wanderungen im Schnee wohltätig entgegenzuarbeiten.
Aber andererseits! Wenn ich diesen Inbegriff Pommersfeldener Wohltätigkeit mit dem fast preußisch strengen Mittagessen unserer Kantine vergleiche, so ist es mir, als wollten Sie demonstrieren, dass die Monumenta noch einmal die schon von Kaegi1 so scharf kritisierte Bahn beschritten hätten, die von fernen halkyonischen Zeiten2, wo Goethe im Archiv seine Beiträge veröffentlichte, zur Wissenschaftsbürokratie des Berliner Patentamtes und der Preußischen Staatsbibliothek führten. Nicht selten und so auch bei dieser Gelegenheit habe ich mit Wehmut gedacht, dass man dem Umkreis des fränkischen Barock nicht ungestraft entflieht. Aber was wollen Sie? Die alte Devise der Monumenta Sanctus amor patriae dat animum3 muss auch hier helfen, selbst dann wenn sie unmerklich sich in die Form umwandelt: patriae inserviendo consumor4!
Aber nun wird es wirklich Zeit, dass ich Ihnen von allen herzlich danke, nicht nur für den materiellen Genuss, den Sie mir wieder bereitet haben, sondern vor allem auch für das Zeichen freundschaftlicher Gesinnung, die ich, um es ganz unzweideutig zu sagen, daraus erschmecken konnte. Beides hat mir den Wunsch neu beflügelt, die schon lange geplante Inspektion der Außenstelle Franken nun bald einmal vorzunehmen und damit einen kleinen Abstecher nach Pommersfelden zu verbinden. Was meinen Sie, wenn wir die Mitte Januar dafür in Aussicht nähmen?
Vorerst aber sende ich Ihnen meine besten Wünsche zum neuen Jahr, die ich auch Ihrer Frau Mutter auszurichten bitte, und bin mit nochmaligem aufrichtigen Dank und den schönsten Grüßen Ihr F. Baethgen


Der Quellenwert dieses humorvollen und freundschaftlichen Brief Friedrich Baethgens an den 16 Jahre jüngeren Otto Meyer geht über die Dokumentation der Freude über eine Weihnachtsgans fünf Jahre nach Kriegsende hinaus. Um ihn erfassen zu können, hier eine kurze Darstellung der Situation, in der sich Friedrich Baethgen und Otto Meyer vor 72 Jahren befanden:


Anfang 1944 waren die Bibliothek sowie drei Mitarbeiterinnen und ein Mitarbeiter des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde (MGH) vor den Bombenangriffen aus Berlin nach Pommersfelden in Oberfranken evakuiert worden. In Berlin blieben nur zwei Mitarbeiterinnen und ein Teil der Verwaltungsunterlagen. Nach Kriegsende begann ein Tauziehen zwischen verschiedenen Interessengruppen um die Neuorganisation der MGH, um Personalien und – entscheidend – um den zukünftigen Standort, da der ehemalige in Berlin nun im sowjetischen Sektor lag. Dieses Interessen- und Machtgeflecht kann hier in seiner Komplexität nicht vollständig dargestellt werden, dafür sei auf die unten genannte Literatur verwiesen. Nikola Becker kommt in ihrem Aufsatz von 2014, in dem sie die Neuorganisation der Monumenta nach Kriegsende im Spannungsfeld von Theodor Mayer, Otto Meyer, Walter Goetz und Friedrich Baethgen beleuchtet, zu dem Ergebnis: „Die nach Kriegsende sich entwickelnden Verhandlungen und verschiedenen Zugriffsversuche auf das Institut sind ohne Kenntnis der persönlichen Beziehungen und Verflechtungen im Hintergrund nicht erklärbar“ (S. 49).


Otto Meyer war im September 1945 nach der Verhaftung Theodor Mayers, Präsident des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde (MGH), von dem Regierungspräsidenten von Ober- und Mittelfranken als kommissarischer Leiter der Pommersfelder Dienststelle eingesetzt worden. Unterdessen wirkten Friedrich Baethgen und Walter Goetz als Vertreter der Berliner und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Richtung einer Neuorganisation der MGH. Nachdem in den zehn Jahren von 1935 bis 1945 das NS-Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde (MGH) entsprechend dem Führerprinzip ausschließlich durch den Präsidenten geleitet worden war, konstituierte sich im September 1946 die MGH-Zentraldirektion neu und wählte 1947 Friedrich Baethgen zum Präsidenten, bestätigt durch die bayerische Regierung. Das Entnazifizierungsverfahren Theodor Mayers, seit 1942 Präsident des Reichsinstituts (MGH), war zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Derweil hatte Otto Meyer mit organisatorischen Geschick und großem persönlichem Einsatz die materiellen Grundlagen der Dienststelle in Pommersfelden gesichert. Im Sommer 1949 zogen die MGH-Bibliothek und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den neuen Standort München um. Otto Meyer blieb in Franken und richtete mit der Zustimmung Baethgens eine Außenstelle der MGH in Bamberg ein.


In seinen öffentlichen Aktivitäten überschritt Otto Meyer nach dem Verständnis des neuen MGH-Präsidenten Friedrich Baethgen immer wieder die Befugnisse des Leiters einer Außenstelle. So schrieb Baethgen am 19. September 1950 an Meyer: „Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie den Wunsch haben, der Aussenstelle Bamberg einen lebendigen Inhalt zu geben und dass Sie von Ihrer langen und erfolgreichen Tätigkeit in Pommersfelden her sich an eine ziemlich weitgehende Selbstständigkeit gewöhnt haben. Ich fürchte aber doch, dass es dadurch mit der Zeit zu Missverständnissen kommen könnte, die ich sowohl im sachlichen Interesse wie auch in dem unserer so guten persönlichen Beziehungen gern von vornherein ausschalten möchte“ und führte im Anschluss seine Kritikpunkte auf, zum Beispiel eine Bekanntmachung im Regierungsblatt Oberfranken von Mai 1950, von der er erst im September Kenntnis erhalten habe. „Wenn darin mitgeteilt wird, dass das Deutsche Institut für Erforschung des Mittelalters Monumenta Germaniae Historica eine Aussenstelle Franken eröffnet hat, so kann eine derartige Orientierung der Öffentlichkeit nur von mir als dem Leiter der gesamten Monumenta ausgehen“, betonte Baethgen. Auch die anderen Kritikpunkte bezogen sich auf Aktivitäten Meyers, bei denen dieser unautorisiert im Namen der MGH agiert habe. Baethgen schloss den Brief mit der Bitte an Meyer, „sich alle diese Fragen einmal ruhig zu überlegen“ und der Überzeugung „dass Sie dann selber zu der Anschauung gelangen werden, dass in diesen Dingen ein grösseres Mass von Fühlungnahme mit mir unumgänglich ist“ (MGH-Archiv B 718). In seinem ausführlichen Antwortbrief vom 11. Oktober 1950 vermied es Otto Meyer, ernsthaft auf die Frage der Kompetenzen einzugehen, auch wenn er versicherte, „voll und ganz Ihren Auffassungen mich zu fügen bereit“ zu sein (MGH-Archiv B 718). „Erforderlichenfalls erbitte ich weitere korrigierende Verhaltungsmassregeln“ endet der Brief Meyers an Baethgen.


Vor diesem Hintergrund – einer spannungsreichen, komplementären Auffassung der eigenen Position – gewinnt die geschenkte Weihnachtsgans Otto Meyers und der handschriftliche Dankesbrief Friedrich Baethgens eine über das Alltägliche hinausgehende Bedeutung. Der Brief Baethgens an Meyer vom 29. Dezember 1950 dokumentiert die ernsthaften Bemühungen dieser Wissenschaftler, eine wohlwollende Beziehung aufrechtzuerhalten, obwohl sie hinsichtlich der Neuorganisation der MGH unterschiedliche Interessen und Meinungen hatten. Dass diese Bemühungen auf Dauer nicht erfolgreich sein würden, kündigte sich im Dezember 1950 noch nicht an.


1 Werner Kaegi, Schweizer Historiker (1901-1979)
2 Begriff aus der griechischen Antike, metaphorisch für entspannte Zeiten
3 Die Liebe zum Vaterland verleiht den Geist.
4 Dem Vaterland dienend verausgabe ich mich.

Annette Marquard-Mois


Nikola Becker, Die Neuetablierung der Monumenta Germaniae Historica in Bayern ab 1944 im Spannungsfeld zwischen Theodor Mayer, Otto Meyer, Walter Goetz und Friedrich Baethgen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 77,1 (2014) S. 43-68


Karl Borchardt, Intermezzo auf Schloss Weißenstein. Zeitungsbericht vom 2. April 1949: Fünf Jahre MGH in Pommersfelden, in: Mittelalter lesbar machen. Festschrift 200 Jahre Monumenta Germaniae Historica (2019) S. 240-243


Martina Hartmann, Aus der Reichshauptstadt auf die „Insel der Seligen“, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 77,1 (2014) S. 27-41


Arno Mentzel-Reuters, Das Reichsinstitut zwischen Ahnenerbe und Westforschung, in: ders. / Martina Hartmann / Martin Baumeister, Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein „Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften“? Symposium des DHI Rom und der MGH am 28./29. November 2019 (2021) S. 1-53


Philipp T. Wollmann, Otto Meyer (1906-2000). Ein Historiker zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik in Franken, in: Fränkische Lebensbilder 26 (2022) S. 287-320, v.a. S. 300-306


Einblicke in die Positionen von Otto Meyer und Friedrich Baethgen bieten (unter anderem) diese Dokumente im MGH-Archiv:


Otto Meyer, Memorandum über die Zukunft der ‚Monumenta Germaniae Historica‘ vom 18.01.1946 (MGH-Archiv B 716, Blatt 37 und 38; PDF S. 72-74)


Friedrich Baethgen, Die Reorganisation der Monumenta Germaniae Historica in den Jahren 1945 – 1948 vom 23.04.1969, v.a. S. 16-20 (MGH-Archiv B 722 a; v.a. PDF S. 19-23)